Mittwoch, 19. Januar 2011

Ideolektik beim Hausarzt

Hier ein Beispiel aus meiner eigenen Praxis:

Eine 46 jährige Patienten kommt zu mir und berichtet über „seit 6 Wochen bohrenden Kopfschmerz“ und zeigt dabei mit ihrem Zeigefinger hinten auf ihren Nacken. Ich bitte sie, das Wort „bohrend“ genauer zu beschreiben: „wie ein Dübel“, sagt sie. „Ein Dübel?!“ spiegele ich wieder. „Ja, wie ein Hohlraumdübel“, sagt sie und ich beginne in Ihrer Welt zu kommunizieren: „Wer kann denn mit so einem Hohlraumdübel umgehen?!“ frage ich sie: „Mein Vater“, sagt sie, „der ist Monteur und immer im Ausland für länger Zeit auf Montage, vor 6 Wochen ist er wieder gefahren . . . (sie stockt) . . . und wir haben uns im Streit verabschiedet . . .“ Da sehe ich, wie ihre Augen glasig werden und spreche sie auf das Gefühl an, das ich wahrnehme. Sie beginnt zu weinen. Ich rate ihr, statt eines Medikamentes diesen Schmerz in Ruhe zu Hause zu zulassen und sich vielleicht dann gedanklich aus der Ferne mit ihrem Vater zu versöhnen. Ich bitte sie, sich in zwei Tagen bei mir zu melden. Sie meldet sich wie vereinbart und berichtet, dass der Schmerz nach dem Weinen schon um 70% abnahm und dann ganz verschwand. Sie sei sehr verwundert gewesen, wie sie den Zusammenhang für sich persönlich erlebt habe. Die idiolektische Gesprächsführung gehört deshalb zu meinem festen Inventar. Es bedarf schon eines gewissen Mutes, den Patienten in seinen Aussagen wörtlich zu nehmen, gerade die scheinbar so banalen Formulierungen, die beim Beschreiben von Symptomen benutzt werden, spiegeln die wahre Welt des Patienten wieder. Sie sind Hinweisschilder zu den verborgenen, unterbewussten Themen, die sich über das Symptom und seiner Beschreibung ausdrücken und bewusst werden wollen. Manche Patienten reagieren verstört; gerade diejenigen, die eine Erwartung hinsichtlich klassisch kurativer Symptombehandlung zuzüglich allerlei Diagnostik mitbringen. Die, die viel im Außen in Bewegung setzen, Fachärzte verlangen, sich an Diagnosen festhalten und chronisch werden. Kurz: Von denen unser Medizinbetrieb lebt ohne Heilung zu erreichen, bestenfalls eine mit viel Aufwand betriebene Symptomlinderung (-unterdrückung), die, ohne vermutlich sich dessen bewusst zu sein, die Patienten dadurch in eine Abhängigkeit zur Medizin bringt. Die unterbewussten Themen (z.B. unterbewusste Konflikte, die sich als Entzündungen ausdrücken) kommen aus den Lebens-Bereichen Beruf, Beziehung und Familie. Es lohnt sich in Ergänzung biographischer Arbeit immer, behutsam nach Störungen in diesen drei Ebenen zu fragen. Hierbei hat die Ursprungsebene der Familiengeschichte des Patienten mit ihren Mustern und (häufig nicht ausgesprochenen) Erwartungen (Mutter-Sohn, Vater-Tochter) die stärkste Kraft und spiegelt sich dann im weiteren Lebensverlauf in den Ebenen Beziehung (Partnerschaft) und Beruf wieder. Bei Mobbing Opfern findet sich häufig ein verdrängter Bezug zur Kindheit; z.B. „mein Chef behandelt mich genauso respektlos wie mein Vater“ ist eine wichtige Einsicht, die erst einmal ins Blickfeld gebracht werden muss, u.a. dadurch, dass man den Patienten zuerst den Chef und dann Beziehungspersonen beschreiben lässt und dann die Parallelen anbietet: „Die Beschreibung Ihres Chefs von heute hat viele Wort-Parallelen zu Ihrem Vater finde ich; wie sehen Sie das?“. Hier nützen keine Interventionen, die nur an den aktuellen Situationen herumbasteln bis hin zum Arbeitsplatzwechsel. Erst wenn das verborgene Kindheitsthema geheilt ist – und das geht nicht über die Ratio, sondern nur über emotionale Heilung, wie sie u.a. in der Hypnotherapie möglich ist – wird die Projektionsfläche im Außen verschwinden. Diese Zusammenhänge zu vermitteln, die sich aus der Biographie ableiten lassen, ist eine wesentliche Aufgabe des Arztes als Gesundheitscoach.

weitere Infos aus fremder Quelle: Die Idiolektik geht zurück auf David. A. Jonas, Analytiker und Anthropologe, der in den 60er Jahren diese Haltung und Methode in seiner Zeit als Analytiker in New York entwickelte und in seiner Tätigkeit in Würzburg und Wien gelehrt hat. Sein Anliegen war es, zu vermitteln, wie Gespräche mit Patienten so im Fluss gehalten werden können, dass diese ihre eigenen Ziele formulieren, Zugang finden zu ihren eigenen Ressourcen, um sich aus eigener Kraft auf den Weg zu ihren Zielen zu machen.

Die Selbstheilungskräfte der Betroffenen werden angeregt, indem ihren Worten, Bildern und Körpersignalen gefolgt wird und so im Gespräch rasch Vertrauen entstehen kann – zum Anderen und zu sich selbst.

Idiolektik stellt eine Haltung und Methode in der Gesprächsführung dar, in der die Expertise über Sprachverwendung und Sprachbedeutung ohne wenn und aber beim Gesprächspartner belassen wird. Der Gesprächspartner wird somit wieder zum Experten seiner eigenen Sprache, zum Aktiven im Umgang mit seinen Themen, zum Kompetenten seiner Lösungswege. Er wird zum Experten seiner eigenen Lebenssituation. Idiolektik ist der methodische, sorgfältige und präzise Umgang mit der Eigensprache (Idiolekt) des Gegenübers im Gespräch. Die idiolektische Haltung ist geprägt von der kompromisslosen Anerkennung der Sichtweise des Anderen. Seine Ressourcen werden fokussiert. Die Fragetechnik ist gekennzeichnet von einfachen, kurzen und offenen Fragen, in denen die Eigensprache des Gesprächspartners aufgegriffen wird. Dabei werden die Bildhaftigkeit der Sprache und nonverbale Signale besonders berücksichtigt. Das Gespräch in der Eigensprache des Anderen ist ein Gespräch in der Welt des anderen. Zwischen den Gesprächspartnern entsteht Resonanz. Neben dem raschen Aufbau einer vertrauensvollen Gesprächsatmosphäre bietet die Idiolektik insbesondere im Bereich der Psychosomatik in der hausärztlichen Praxis einen guten Weg, dem Patienten einen Zugang zu seinen Symptomen zu ermöglichen und die eigenen Ressourcen zu deren Bewältigung zu erkunden und zu aktivieren. Das idiolektische Gespräch folgt nicht der lexikalisch-inhaltlichen Logik der Worte, sondern fokussiert auf die assoziativ, „limbischen“ Anteile des Sprachflusses. Hierdurch entsteht oft eine sehr intensive und bildreiche Verbindung zum anderen, und Sprache wird in ihrer ursprünglichen Funktion zum Austausch von Gefühlen und zur Stärkung sozialer Bindungen lebendig. Die idiolektische Gesprächsführung ist vielseitig einsetzbar, z.B. in ärztlichen und therapeutischen Gesprächen, in der Beratung, im Kontakt mit Kindern, aber auch im Umgang mit Kunden und Mitarbeitern, überall dort, wo Menschen eine gute Verbindung brauchen, um ihre Ziele zu erreichen. Kurz: zuhören statt reden, fragen statt raten, respektieren statt recht haben und vielleicht verstehen.